Interview mit Jana Crämer

Der BKK-Landesverband NORDWEST sprach mit Jana Crämer, die seit 2016 im Rahmen des Projekts „bauchgefühl“ gemeinsam mit dem Musiker Batomae Konzertlesungen an Schulen durchführt. Initiiert wird die landesweite Kampagne vom BKK-Landesverband NORDWEST, die mit der Kampagne „bauchgefühl“ zu den Themen Magersucht, Bulimie sowie Esssucht den Lehrerinnen und Lehrern komplette Lehrmaterialien zur Verfügung stellen. Ziel des Projekts „bauchgefühl“ ist nicht nur die Sensibilisierung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen für dieses Thema, sondern auch, dass Essstörungen erst gar nicht entstehen.

„Hey, ich bin Jana und ich bin essgestört“, stellt sich Autorin Jana Crämer, die noch vor wenigen Jahren über 180 Kilo gewogen hat, ihren Fans vor. Mit ihrem von den Kritikern hoch gelobten Debüt-Roman „Das Mädchen aus der 1. Reihe“ hat sie ein Tabu gebrochen und spricht heute, mit etwa 100 Kilogramm weniger, schonungslos offen über ihre Essstörung und wird von zahlreichen Medien auf ihrem Weg begleitet (u.a. RTL, SAT.1, VOX, ZDF). Über 20.000 Fans folgen Jana Crämer auf ihren Social-Media-Kanälen und ihrem Blog Endlich ich. Für ihren Mut in der Kommunikation wurde die Wahl-Berlinerin mit dem SignsAward18, dem Oscar der Kommunikationsbranche, geehrt und gilt als eine der authentischsten Botschafterinnen für Bodypositivity.

 

1. Du bist seit Herbst 2016 im BKK-System. Warum hast du dich dazu entschieden gerade mit uns (BKK XY) die Konzertlesungen an den Schulen fortzuführen?

Ich bin seit meiner Geburt im BKK-System versichert, und dass wir jetzt zusammenarbeiten, freut mich total. Als wir uns kennengelernt haben, und ich mehr über die Initiative „bauchgefühl“ erfahren habe, stand für mich vollkommen außer Frage, dass wir zusammen gehören. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal mit einem guten Bauchgefühl an Schulen fahre und dass wir ganze Schulen mit unseren Konzertlesungen verändern können. Wir erhalten tolle Reaktionen von Schülern, sowohl zum Unterrichtsprogramm „bauchgefühl“ als auch zu den Konzertlesungen, das ist wundervoll. Natürlich gibt es mal Tage, wo man entnervt auf den Wecker guckt und keine Lust hat, um 06:30 Uhr zur nächsten Schule zu fahren, aber wenn wir dann nach der Konzertlesung mit den Schülern zusammensitzen, Tränen trocknen und Umarmungen ausgetauscht werden und beobachten dürfen, wie nah so eine Klasse zusammenrücken kann, ist das unvergleichlich.

 

2. Welches Feedback erhältst du von den Schülern und Lehrern nach den Konzertlesungen?

Vorher weiß niemand so wirklich was passiert. Alle fragen sich: Ist das jetzt ein Theaterstück oder eine ausgedachte Geschichte oder so eine langweilige Info-Veranstaltung? Und wenn die Schüler*innen dann merken, dass wir unsere Geschichte erzählen, dass wir beschreiben wie wir mit dem ganzen Thema umgehen, dass da eben nichts geschauspielert ist, sondern zwei beste Freunde auf der Bühne sitzen, die aus ihrem Leben erzählen, erreicht sie das dann wirklich. Wir bekommen Standing Ovations und auch Lehrer kommen mit Tränen in den Augen zu uns. Ich habe neulich eine E-Mail erhalten, wo uns eine Klasse ein Jahr nach der Konzertlesung ein Gruppenfoto geschickt hat. Es zeigt eine starke Gemeinschaft, die aufeinander aufpasst und füreinander da ist. Wir dürfen mit unseren Auftritten Klassen, ja, ganze Schulen verändern. Das ist wundervoll.

 

3. Was rätst du Jugendlichen, die Hilfe benötigen und ihre Essstörung bekämpfen möchten?

Jedem, der sich mit seinem Körpergewicht nicht wohl fühlt, der unter seinem Essverhalten leidet und daran verzweifelt, weil er es nicht in den Griff bekommt, rate ich, bitte nicht zu googeln. Bitte nicht im Internet nach der nächsten Crash-Diät schauen und irgendwelche überteuerten Abnehmprodukte raussuchen, das ist absolut gefährlich. Wendet euch an eure Krankenkasse. Das klingt unsexy, langweilig und spießig. Aber die Krankenkassen sind wirklich diejenigen, die daran interessiert sind, dass ihr gesund werdet. Das klingt so einfach und so einfach ist es auch. Jede Krankenkasse hat das Ziel, viel Geld zu sparen und das tun sie, wenn ihr gesund seid. Deshalb guckt bei euren Krankenkassen nach Ansprechpartnern, nach Ernährungs-Tipps, Info-Broschüren, die man direkt downloaden kann.

 

4. Hast du Ziele/Vorsätze für 2019? Wenn ja, welche? Wie siehst du deine Zukunft – beruflich und privat?

Ich bin tatsächlich gut darin, mir Vorsätze vorzunehmen und bin noch besser darin, diese über den Haufen zu werfen. Aber was ich mir dieses Jahr fest vorgenommen habe ist, mehr Sport zu treiben. Das ist etwas was ich „schludern“ lasse und merke, dass es mir nicht gut tut. Ich habe gerade mein neues Buch, die überarbeitete Auflage „Das Mädchen aus der 1. Reihe“, fertig und jetzt stehen ganz viele Interviews und TV-Drehs an und ich merke, dass ich nicht fit genug bin. Ich komme schlecht aus dem Bett, bin insgesamt einfach nicht so leistungsfähig und stark wie ich wäre, wenn ich mich mehr bewegen würde.

 

5. Wovor hast du aktuell am meisten Angst?

Angst hatte ich tatsächlich mal vor Interviews. Gar nicht so vor dem Interview an sich, sondern davor, was die Medien daraus machen. So viel wie in der Öffentlichkeit stattfindet, so reißerisch sind manchmal auch die Medien. Ich bekomme es ja selten vorher zu lesen und den TV-Beitrag sehe ich auch erst bei der Ausstrahlung. Mittlerweile denke ich, jedes Interview tut gut, rüttelt wach und macht die Menschen aufmerksam. Und wenn ich mal als blöde, naive oder arrogante Zicke dargestellt werde, weil der Bericht das braucht, damit man die Menschen auf ihr Problem mit dem Essen aufmerksam macht, dann ist es mir das wert.

 

6. Kannst du deiner Essstörung vielleicht auch positive Seiten abgewinnen?

Inzwischen bin ich dankbar, dass ich seit meiner Jugend essgestört bin. Mein Elternhaus war Himmel oder Hölle. Wenn ich die Haustür aufgeschlossen habe, wusste ich nicht, was mich dahinter erwartet, weil mein Vater schwerer Alkoholiker war. Meine Essstörung war mein Katalysator. Eine Therapeutin hat gesagt: „Jana eine Essstörung ist besser als ein Strick.“ Ja, die Essstörung hatte ihre Zeit und es war gut, dass sie da war, weil ich sonst wer weiß was getan hätte, aber inzwischen ist es einfach nervig, dass ich viel zu leicht in die alten Muster verfalle und es als Trost/Schutz ansehe. Ich möchte gesund werden und ich möchte mich nicht von einer Sucht bestimmen lassen.

 

7. Hat dir schon mal jemand den Vorwurf gemacht, du nutzt deine Krankheit kommerziell aus?

Ja. Tatsächlich. „Ja, du bist ja nur so bekannt, weil du essgestört bist.“ Aber da kann ich zum Glück drüber lachen. Würde jeder, der essgestört ist, auf dieses Tabuthema aufmerksam machen, hätten wir ein Tabu weniger auf dieser Welt. Aber leider sind wenige so mutig, es anzusprechen, also bin ich mutig für die, die es noch nicht sein können.

 

8. Angenommen wir hätten das Jahr 2050: Glaubst du, du würdest dich immer noch sehr mit dem Thema Essen beschäftigen?

Ich werde mich immer mit dem Thema Essen beschäftigen. Ich sehe das nicht so wie bei einem trockenen Alkoholiker. Es gibt beim Essen so viele interessante und verschiedene Aspekte (neue Rezepte, was es mit dem Körper macht, was es für einzelne Bausteine wie Fette, Kohlenhydrate gibt) und durch die Arbeit mit dem Thema bin ich neugierig geworden. Ich möchte sehr viel mehr über das Thema erfahren. Man lernt ja nie aus.

 

9. Jana, möchtest du noch was (Persönliches) von dir „los werden“?

Ich bin dankbar, Leben verändern zu dürfen, denn ich weiß wie es ist, wenn man glaubt, mit einem Problem allein zu sein. Mir schreiben Eltern, dass das Thema Essen Zuhause nicht mehr für Krieg am Mittagstisch sorgt. Und genau diese Reaktion, dass mein Buch und die Auftritte mit Batomae Leben verändern, Familien wieder zusammenführen und Hoffnung schenken, ist echt unbezahlbar. Das macht mich glücklich, stolz und lässt mich nie aufgeben.